Debatte ohne Not - Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs stellt Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens infrage

Protokollrede Annette Widmann-Mauz MdB im Bundestag zur 1. Lesung des Gruppenentwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs

 

 

Rede zu Protokoll – Annette Widmann-Mauz MdB
Donnerstag, 5. Dezember 2024 – ZP 10
a) 1. Beratung des Gruppenentwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs
b) Beratung des Gruppenantrags
Versorgungslage von ungewollt Schwangeren verbessern

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren,

in Deutschland werden pro Jahr im Durchschnitt über 100.000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. 916.000 Mal haben Frauen im letzten Jahr die „Pille danach“ in Anspruch genommen, mit der nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr die Einnistung möglicherweise befruchteter Eizellen in die Gebärmutter verhindert werden soll. 
Die Ampelkoalition hat sich vor drei Jahren im Koalitionsvertrag den Auftrag gegeben, Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des Strafrechts zu regeln. Dafür hat sie eine Kommission eingesetzt, deren Vorschläge die Grundlage für den heute diskutierten Gruppenentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs bilden.
Auch wenn der Titel des Gruppenantrags „Versorgungslage von ungewollt Schwangeren verbessern“ etwas anderes insinuiert, geht es den Antragstellerinnen und Antragstellern mit den vorgeschlagenen Regelungen im Kern darum, menschlichem Leben im ersten Trimenon einer Schwangerschaft die Schutzwürdigkeit abzusprechen und aus einem Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche einen routinemäßigen medizinischen Eingriff machen. Der eigentliche Sachverhalt, dass damit menschliches Leben zerstört wird und nicht lediglich ein unliebsames Stück Gewebe aus der Gebärmutter entfernt wird, gerät in den Hintergrund und wird geschickt kaschiert.

Die Schutzwürdigkeit werdenden Lebens wird damit grundsätzlich infrage gestellt. Unsere Verfassung – Art. 1,1 GG und die dazu ergangene Verfassungsrechtsprechung – kennt jedoch keinen abgestuften Lebensschutz zwischen der 12., 13. oder weiteren Wochen einer Schwangerschaft. Der Embryo entwickelt sich als Mensch und nicht zum Menschen. Spätestens mit der Einnistung des Embryos im Mutterleib ist er unmittelbar mit der Frau verbunden und kann nur mit der schwangeren Frau und nicht gegen ihren Willen geschützt werden.
Nach geltendem Verfassungsverständnis sind die Selbstbestimmung der Frau und das Lebensrecht des Kindes gleichwertige Rechtsgüter, die im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden müssen.

Genau das leisten seit 1995 Paragraf 218 und 218a StGB mit dem ihnen zugrundeliegenden Modell der „doppelten Anwaltschaft“: Für den Schutz des Selbstbestimmungsrechts der Frau und für den Schutz des ungeborenen Lebens. Denn die Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft in den ersten zwölf Wochen trifft allein die Frau. Sie bleibt straffrei.
Bis zur vollendeten 12. Schwangerschaftswoche nach der Empfängnis ist der Straftatbestand nicht verwirklicht, wenn die Frau vor dem Abbruch eine entsprechende gesetzlich verpflichtende Beratung in Anspruch genommen, eine dreitägige Wartezeit eingehalten und der Abbruch durch einen Arzt vorgenommen wurde.
Ein Abbruch ist nicht rechtswidrig, wenn nach ärztlicher Erkenntnis eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands für die Frau nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann oder im entsprechenden Zeitraum eine Vergewaltigung stattgefunden hat bzw. ursächlich für die ungewollte Schwangerschaft ist.
Bis zur vollendeten 22. Schwangerschaftswoche ist ein Abbruch nach Beratung zwar rechtswidrig, die Schwangere bleibt aber straffrei.
Im Unterschied zu anderen Ländern haben wir damit in Deutschland eine verfassungsgemäße gesetzliche Regelung gefunden, die sich mittlerweile über Jahrzehnte hinweg bewährt hat.

Warum dann also dieser Gruppenantrag, mit dem in der Öffentlichkeit faktenfrei suggeriert wird, dass Frauen bei Abtreibungen zwangsläufig mit dem Gesetz in Konflikt gerieten? Mit Behauptungen von einer „Kriminalisierung“ ungewollt Schwangerer werden Ängste und Verunsicherung verbreitet, obwohl es zuletzt lediglich ein Strafverfahren im Jahre 2009 gegen eine Schwangere wegen einer Verletzung des § 218 StGB gab. Hingegen stiegen die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland zuletzt auf 106.000 Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr, die nach Beratung und Wartezeit im zulässigen Zeitraum durchgeführt wurden.
Auch die Selbstbestimmung der Frau ist nach geltendem Recht nicht eingeschränkt, sondern zu jedem Zeitpunkt gegeben. Die Beratungspflicht und die vorgesehene Wartezeit von drei Tagen sind Schutzmechanismen, die sicherstellen, dass Schwangere in einem neutralen Raum ergebnisoffenen und in einer wertschätzenden Atmosphäre beraten und frei von äußeren Einflüssen eine informierte, abgewogene und gewissenhafte Entscheidung treffen können. Die Ausstellung der erforderlichen Beratungsscheine dient nicht zuletzt auch den beteiligten Ärztinnen und Ärzten für die abgesicherte Durchführung des Abbruchs.
Frauen werden im Schwangerschaftskonflikt umfassend unterstützt. Mit einem bundesweiten Netz an professionellen Beratungsstellen, die den Schwangeren konkrete Hilfe für ein Leben mit dem Kind aufzeigen, sie ermutigen und unterstützen, Ressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten in sich selbst und ihrem Umfeld zu erkennen und vor einer so folgenreichen Entscheidung zu prüfen. Nachbefragungen bestätigen, dass die Beratung von der überwiegenden Mehrheit der Schwangeren positiv wahrgenommen und als hilfreich und unterstützend angesehen wurde. Sie ist und bleibt unersetzlich, unabhängig davon, ob die Entscheidung danach für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft erfolgt, - oft im Rückblick auch noch Jahre später.
Falsch ist auch die Behauptung, dass es nicht ausreichend Ärztinnen und Ärzte gebe, die einen Abbruch durchführten. Bei allen regionalen Unterschieden in Bezug auf die Bereitschaft von Kliniken bzw. Ärztinnen und Ärzten, Abtreibungen durchzuführen, haben Jahr für Jahr über 100.000 Frauen eine Ärztin oder Arzt in einer entsprechenden Praxis oder Klinik erreicht. Auch die Sorge vor unzureichender qualitativer medizinischer Versorgung ist unbegründet, denn die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs ist in der Muster-Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer ausdrücklich für die Weiterbildung für Frauenärztinnen und -ärzte verankert.

Der hier heute vorgelegte Antrag verzerrt die Debatte bewusst. Er beschreibt eine Situation, die es so bei uns nicht gibt, um eine gesellschaftliche Stimmung zu erzeugen. Wohin eine gezielte Polarisierung bei diesem wichtigen Thema führt, können wir an der Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung und einer Spaltung der Gesellschaft in vielen anderen Ländern beobachten.
Frauen, die mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert sind, befinden sich in einem schweren Konflikt und ringen mit existenziellen Sorgen und Ängsten, Unsicherheit und Zweifeln. Sie brauchen vor allem Hilfe und Unterstützung, individuelle Beratung und verlässliche und gut zugängliche Informationen über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch wie über die Möglichkeiten und Wege, mit ihrem Kind zu leben.
Was sie sicher nicht brauchen, ist ein künstlich aufgebauter ideologischer Popanz. Statt bei einer so wichtigen Frage gemeinsam niedrigschwelligere Wege auszuloten – etwa was die Erstattungsfähigkeit von Verhütungsmitteln angeht – wollen die Antragstellerinnen und Antragsteller den bestehenden gesellschaftspolitischen Kompromiss aufkündigen und diese Neuregelung ohne eine differenzierte, sachgerechte und gesellschaftlich geführte Diskussion quasi auf den letzten Metern noch kurz vor den Neuwahlen durchdrücken. Ethische und religiöse Fragen wurden nicht einmal andiskutiert, was sich allein schon bei der Zusammensetzung der sogenannten Expertenkommission zeigte.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
Wie groß muss Ihre politische Not als ehemalige Ampel-Koalition sein, dass Sie aus kurzfristigem, rein parteipolitischem Kalkül den gesellschaftlichen Frieden unseres Landes in einer so essenziellen, ethischen und grundlegenden rechtlichen Frage gefährden? Der Not, in der sich Frauen in dieser schwierigen Konfliktlage befinden, ist dieses Vorgehen jedenfalls nicht angemessen. Dem unteilbaren Schutz der Würde des Menschen nach Art. 1 unseres Grundgesetzes fügen Sie schweren Schaden zu. Mit nicht absehbaren Folgen.